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VATERTAG

von
Gerhard Frantz

Als Peter mich das erste Mal mit nach Hause nahm glich der Weg durch die Enge der Backstube der Erkundung einer wohlbekannten fremden Insel. Warm und schwer duftend ihre Früchte, süße Botschafter mit kleinen zuckrigen Hüten auf gepuderten Köpfchen. Sowenig ich wissen wollte, was in der Metzgerei geschah, über deren Wurstküche wir wohnten, sosehr war ich neugierig auf die Welt der Mohnschnecken, des Bienenstichs, der martialischen Granatsplitter, vor allem aber der geliebten Vanilleringe, eine Spezialität die es nur bei Bäcker Rühl gab. Weißglänzender Eiweißzuckerschaum mit Schokoglasur auf süßem Mürbeteig; am besten schmeckte es, wenn man vorsichtig den lockeren Schaum vom rauhen Mürbeboden leckte, bevor man diesen, der fast schon in der Hand zerbrach, mit der Zunge zerbröselnd, genoß.
Wenn wir uns still verhielten durften wir manchmal Peters Vater und seinen Gesellen bei der Arbeit zusehen. Normalerweise waren sie mit ihrem Brotwerk schon fertig bevor wir in die Schule gingen. Doch mindestens einmal im Jahr, wenn die Hanauer Familien mit ihren wohlgefüllten Henkelkörben vor die Stadt zogen, um die Befreiung von schwedischer Belagerung im Dreissigjährigem Krieg mit einem großen Freß- und noch größerem Saufgelage zu feiern, arbeiteten die Bäcker bis in die Nacht.
Die bis in die Ohrmuscheln mehlgepuderten Gestalten, an ihren Haaren klebten die Mehlkörnchen wie weiße Pollen an Bienenbein, hantierten flink mit ihren langstieligen hölzernen Brotschießern, die sie durch die Luft fliegen ließen, wie römische Galeerensträflinge ihre Riemen. Sie eilten schwitzend zwischen der Knetmachine,die, ausdauernd wie eine stämmige Wetterauer Bäuerin, mit ihren stählernen Armen den Teig ummang, den gemehlten Brotkörben aus Schilfgras und dem vielmäuligen Ofen hin und her. Obwohl der Platz knapp war und die Wege eng, bewegten sie sich so geschickt, daß die ungebackenen Teigstückchen auf den Blechen nie in ernstliche Gefahr gerieten und die weißen Mützen immer auf dem Kopf blieben.
Der Konditor, der, obwohl er nie viel Worte machte sich seiner Meisterschaft bewußt war,  hatte sich in die hinterste Ecke gerettet. Er balancierte die kiloschwere Cremespritze elegant in rhythmischem Auf- und Ab über dem Backblech, und platzierte, mit einem kräftigen Druck auf das Leinentuch, die fettglänzende kakaobraune Masse treffsicher auf den Teigringen. Die Geburt eines Granatsplitters. Nie haben wir bei diesem Begriff an den Krieg gedacht; es  Granatsplitter gab es beim Bäcker, und es gab Leute die hatten Granatsplitter im Kopf, wie der Bayernsepp.
Die schwere Arbeit in der heißen Backstube, das athletische hantieren mit allerhand Werkzeug stand in merkwürdigem Gegensatz zu meinen allzu kurzen, gierig schlingenden Kuchengenüssen.
Peters Eisenbahn. Das Brett, auf dem sich die grünbraunen Pappmachéberge, erhoben, war fast so groß wie das Schlafzimmer meiner Eltern. Zugegeben, das war ein kleines Zimmer, eigentlich nur ein Verschlag, aber die Eisenbahn von Peter war auch größer als das Supermodell, daß in den Wochen vor Weihnachten immer im Fenster des Spielzeugladen zu bewundern war. Peter selbst aber fand keinen Spaß an den Stellwerken, Tunneln und Schlafwagen, denn er hatte sich eine Carrerabahn gewünscht, mit rasenden Porsches und Ferraries, die man aus der Kurve fliegen lassen konnte. Wir verbrachten die meiste Zeit damit spektakuläre Bahnunfälle zu inszenieren; beliebt war ein Zusammenstoß auf der Bergstrecke, wo, wenn wir uns geschickt anstellten, zwei vollbesetzte Personenzüge entgleisen konnten, die, talwärts stürzend, zahlreiche Bäume aus grünem Dekomoos mit sich rissen und im verträumten Märklindörfchen alles unter sich begruben.
Die Bergungsarbeiten, mit eilig herbeigeschafften Kranwagen, waren langwierig und schwierig, aber wir setzten alles daran so professionell wie möglich vorzugehn.
„ Los, auf die Pferde ihr stolzen Ulanen.“ der Schlachtruf kam von unten, aus der Küche, die direkt an das Ladengeschäft anschloß. Wenn keine Kundschaft da war, nutzte Frau Rühl die Zeit um ihren Männern das Essen zu bereiten.
Peter stieß mit der Fingerspitze kurz den Ausleger des Bergungskrans und ließ ihn blechern in die Tiefe purzeln.
„ Komm, das mußte sehn. Der Opa kann Adenauer furzen. Un' des macht er jetzt “ Schon war Peter auf dem Weg. Prahlerisch seinen Heimvorteil nutzend schwang er ein Bein über das Geländer und den Fuß des anderen Beins ließ er wie bei einer Ratsche über die Treppenstufen klappern. Ich stolperte, immer in Gefahr auf einer der frischgebohnerten Stufen auszugleiten, hastig hinterher.
Peters Opa saß alleine in der Mitte der geräumigen Küche, den linken Ellbogen auf die rosengeblümte Plastiktischdecke gestützt, in der rechten Hand seinen Spazierstock, dem, im gegensatz zu dem Exemplar meiner Tante Anni, keinerlei Großklocknerüberquerungsplaketten ins hölzerne Mark getrieben waren.
Den braunen Stock, dem er immer mit Jawoll mein Führer salutierte, klemmte er unter die Kniekehle, um seinen Oberschenkel, der ab dem Kniegelenk ein Holzbein tragen mußte, zu entlasten.
„Heinrich!!!“
Martha, Peters Mutter stand in der Tür. Sie war eine dunkle Frau Mitte vierzig, groß und wuchtig; die weiße Schürze, die sie im Laden trug, unterstützte, durch die außerordentliche Betonung ihres Busens und der Hüfte, ihre mütterliche Autorität. „Heinrich“ wiederholte sie mit strengstem Blick.Wenn sie ihren Schwiegervater nicht wie alle anderen und selbst auch immer „ Oopa, Vadder oder Heini“ nannte, dann meinte sie es ernst. Der alte Rühl winkte ab. „Solang ich noch krabbeln kann, mach ich in meim´ Haus was ich will. Wenn ihr mich  ins Kaufgrab geärgert habt, zur Oma, könnt ihr hier nackich uff de Tische tanze. Rumba oder Cha Cha Cha. Is mir egal.“ Er ließ seine Hände, die, in täglicher Übung mit den Jahren die perfekte Paßform für Äpfelweinglas und Spazierstock ausgebildet hatten, auf den Holzgriff sinken.
Was wir im ersten Stock nicht gehört hatten, was dem Kampfruf aber unweigerlich vorausgegangen sein mußte, denn ich habe es nachher oft genug erlebt, war eine Kavalkade von Fürzen, oder soll man sagen ein zeitlich und räumlich ungeheuerlicher Riesenfurz, denn die Verwendung der Mehrzahl, mit ihrem lächerlich hysterischen Ü, verkennt die baßtiefe Tonlage der großväterlichen Emanationen .
Opa Rühl hatte aus der Not seiner altersbedingten Flatulenzen ein zweifelhaftes Kunsthandwerk entwickelt. Als die ganze Sache anfing, vor etwa 10 Jahren, versuchte er sich noch taub zu stellen; ähnlich wie Kinder, die, wenn sie selbst nicht gesehen werden wollen, sich die Hände vor die Augen halten. Aber ihm, dem alten Schlitzohr, hat das niemand abgenommen, denn wenn Martha ihn zum Essen rief, hörte er es sogar in der dunkelsten Ecke der Backstube.
„ Is ebe grad e gut Stöffsche beim Rappe”, zuckte der Alte, alle Schuld auf sein Leibgetränk, den Äpfelwein, schiebend, die Achseln. Zum Rappen war sein Stammlokal, wo er seine alten Freunde und Stöffcherpetzer zum Skatspielen traf.
Mit der Zeit war er zum Fachmann für die fallenden Winde geworden. Eine abwechslungsreiche Sprüchesammlung zum Thema hatte er mittlerweile in sein umfangreiches Repertoire von Witzen und Anekddoten aufgenommen „ Mein lieber Freund und Sportsgenosse, ich glaub du hast en .... „ wenn seine Schwiegertochter in der Nähe war nickte er die Pointe stumm mit dem Kopf und wir Kinder ergänzten die verbotenen Worte im Kopf, doch war er mit uns alleine, auch die Anwesenheit eines Gesellen störte ihn keineswegs, bekamen wir die ganze Wahrheit zu hören.
„Wer es hat zuerst gerochen, dem ist er aus dem Arsch gekrochen. So. Des is die ganze Wahrheit. Ihr Knirpse wißt doch nichts, nichts von der Welt.“ wie in Gedanken fummelte er den Stummel seines Stumpen aus der Jackentasche, steckte ihn bis zum angebrannten Ende in den Mund zog ihn wieder heraus und die naßglänzende gründunkelbraune Zigarre quer über die Lippen.
„ Opa, kannste noch ma Adenauer,wie beim letzte Mal.“
„ Nee mein Lieber, ich hab mei Pulver verschosse..." er grinste und fügte hinze "... für heut.“
“Kleiner, hol mir ma die Streichhölzer vom Herd,“ er deutete auf mich und ich sprang auf , um die gelbschwarze Schachtel Sicherheitshölzer, die nicht am Herd, sondern auf den Küchenschrank, in einer gondelförmigen Schale aus buntem, gezogenem Glas, lag. Dies Schale war ein Mitbringsel vom letzten Italienurlaub. Das Zauberwort hieß murano und Frau Rühl beherrschte die Sprache des erfahrenen Italientouristen perfekt. Die Rühls und die Wenzels, der Kolonialwarenhändler, waren die einzigen im Viertel, die sich einen Auslandsurlaub leisten konnten; vielleicht noch der Metzger Matzinger, bei dem wir wohnten, aber der machte nie Urlaub, schon gar nicht im heißen Rimini.
Die Streichholzschachtel, deren Preis, eine fettbauchige 5 auf dem Etikett prangte, gab unwillentlich Auskunft über noch einen anderen Umstand. Peters Familie kauft bei Konsum ein, denn nur dort gibt es diese Marke; bei Wenzel an der Ecke gibt es die Welthölzer , schwarze Schrift auf blauem Grund, gelbliche Hölzer mit roten Köpfen.
Die Bäckerfamilie Rühl konnte es sich also leisten im billigeren Konsum einzukaufen, während meine Eltern, wie viele andere ärmere Kunden, darauf angewiesen waren, sich dort zu versorgen wo man anschreiben lassen konnte.
Der Opa zündete sich den halbabgebrannten Stumpen an.
„Heutzutage kann man Adenauer in der Stadthalle von der Bühne runterpubsen und wenn mans gut macht klatschen die Leute auch noch Beifall.“ Anscheinend wollte er uns etwas wichtiges sagen, denn er bemühte sich redlich Hochdeutsch zu sprechen, allerdings so, wie es Komunalpolitiker tun, wenn sie irgendetwas unangenehmes Verkünden, mit einem Zungenschlag ins Gewollte, eine Sprache mit abgespreiztem kleinen Finger, die ängstlich jede Endung buchstäblich spricht.
„Aber früher“ fuhr er fort, und blickte mir, mit seinen braunen Augen, die an manchen Stellen von einem weißlichen Schleier überzogen waren , ernst
ins Gesicht „ Früher war das anders. Dein Onkel Heinz, Peter, du weißt von wem ich red'.“ Ich kannte Peters Onkel Heinz, er trug auf seinem schnapsroten Kantschädel mit vollem weissen Haar immer ein schwarzes Fallschirmjägerbarett mit blauem Abzeichen. Sein Element war der Krieg, oder genauer die Erzählung die Krieg hieß, oder Kameradschaft.
„ Dein sauberer Onkel entpuppte sich in der Hitlerei als Säukerl. Ich hab ihm aber trotzdem mein Leben zu verdanken, was mich heut noch fuchst, aber nur weil seine Spießgesellen alles von unten nach oben gekehrt haben. Nichts hat mehr gestimmt. Ich war im ersten Weltkrieg und ich war Deutschnational, ihr wißt nicht was das ist, also ich war unserem Kaiser Wilhelm treu. Hier, les mal Kleiner" Er hielt mir einen Blechring, den er am kleinen Finger trug, direkt vor die Nase." Gold für Eisen" las ich laut vor." Genau, ich gab Gold für Eisen und da bin ich heut noch stolz drauf. Also Hanau, das war damals, ich mein in de 20er Jahrn rot, die ganzen Fabriken und das alles, und als die Hitleristen aufkamen mit ihren braunen Uniformen, da warn des erst nur e paar Spinner, und dein Onkel Heinz natürlich gleich debei. ,Bohnesuppnazis, haben wir die genannt, weil die mehr am täglichen Eintopf in der Parteistubb interessiert waren, als an dere Politik. Ob Rot oder Braun für mich sind des alles Kommuniste. Das hat man schon daran gesehen...“ er zog seinen Stock unter dem Holzbein weg und das Gelenk knarrte sich in die bequemste Lage. Mit beiden Händen auf den Griff gestützt, die Zigarre locker links unter die Oberlippe gehängt, fuhr er, mittlerweile hatte er vor lauter Erregung wieder zu seinem Dialekt zuflucht gesucht, fort.
„... erst warn se Rot dann warn se Braun. Ganz einfach. Der Eisenbahner-Schorsch zum Beispiel, Rotfrontkämpferbund, ein ganz wilder Kommunarde, hat in seiner Freizeit immer die Rote Fahne verkauft, in den Kneipen. Dreiunddreißig, die rote Fahne aus dem Fenster, aber simsalabim, die mit Kreuz auf weißem Grund. Er war bei de Reichsbahn. Der weiß bestimmt wo die Judde all hingefahrn sind. Der Dr. Fränkel und de Gummernjud. Vom Hauptbahnhof aus nach Osten. Das war keine KDF Fahrt in die Sommerfrische. Kraft durch Freude, des kennt ihn nemmer mit eure 10 Jährcher, zum Glück.“
„ Ich werd nächste Woche Zwölf, Opa, zwölf.“ protestierte Peter „Und ich wünsch mir e Carrerabahn.“
„Bis alles in Scherben... fällt ham se gesunge, die Traumtänzer, und wie recht ham se gehabt. Aber weiter. De Eisebahner-Schorsch Fünfundvierzig. Mein Schorsch. Abracadabra Ruckedizuck. Zwei Tage nach seiner Entnazifizieung war er Fahrer bei de Amis. Später iss er zur Polizei. Krebs mit sechzig. Kabutt.“
Peter und ich verstanden gar nichts mehr, aber den Alten durfte man nicht unterbrechen.
„ Ja die Juden. Bevor die Verbrecher kamen, haben wir mit allen friedlich zusammengelebt. Sicherlich manchmal gabs Ärger. Juddehasser gabs auch, aber auch schon vor de Nazis. Ärger zwischen Hanauern und Steinheimern, da gabs nicht nur blaue Flecken, Ärger zwischen neustädter Hahnesträßler und altstädter Juddegässer, und die Juddegäßer des warn mir, da, in der Ruine in der ihr manchmal spielt, gegenüber vom Rappe, ich hab euch da schon gesehn, dort stand die Synagog. Und ihr seid auch Juddegäßer, aber des dürfe mer heut nemmer sage. Weil die braune Verbrecher, die Brüder, die staubige, alles kaputt gemacht ham. Alles. Natürlich gabs früher auch Krach, und die Zinsjudde konnt niemand leide. Ob der Rot war oder Schwarz oder Schwarz- Weiß- Rot wie ich, aber der Dr. Busch Frontkämpfer, den hammse dreiunddreißig gleich ausm Fenster geschmisse, die Drecksäck. Weil der war en Jud.“
Frau Rühl erschien zwischen Rahmen und Tür und presste zischend „Opa, mir ham Kundschaft. Bitte! Bitte! Bitte!“ durch die Zähne,verzog dabei ihr Gesicht zu einer lautlos schreienden Grimasse und ihre rechte Hand schnitt, bei jedem bitte wie ein Fallbeil die Luft.
Seit wir in die Altstadt gezogen waren, vor einem halben Jahr, waren wir Kunde bei Rühls. Es gab zwar noch einen anderen Bäcker in der Straße, aber der Rühl machte die besseren Konditorwaren, was auch meine Mutter zu schätzen wußte. Im übrigen ging Peter in meine Klasse und meine sechzehnjährige Schwester hatte sich mit Ursel angefreundet, Peters Schwester.
Obwohl ich mitlerweile bei Rühls ein und ausging, gab es eine präzise Trennung von Ladengeschäft und Wohnung, Geschäftliches und Privates. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, durch den Laden in die Küche zu gehen oder umgekehrt die Wohnung über das Ladengeschäft zu verlassen. Das waren zwei Welten, getrennt durch eine Küchentür als unüberwindliche Grenze. Sobald ich den Laden betrat war ich ausschließlich Kunde; wollte ich meinen Freund besuchen, mußte ich die Haustür benutzen. Hätte ich Peters Freundschaft gesucht, weil ich mir ausrechnen konnte in den Genuß von Gratisbackwaren zu gelangen, so wäre das eine Fehleinschätzung gewesen, denn außer ein paar stibitzten frischen Butterstreuseln gab es nie irgenwas umsonst.

„ Is ja gut. Ist ja schon gut. Dei Mutter isn Drache, mein Bub, aber der Dr. Busch war en gute Kerl, einfach en gute Kerl. Was der gesehen hat für ein Elend und hat immer gelacht. Gelacht, net ausgelacht. Der war immer da wenn mern gebraucht hat. Un auch für die arme Leut. Net so wie de Dokter Weick mit seine Pianistefingercher, der war sich zu schad deiner Oma die Hand zu geben, damals vor em Krieg weil er Angst gehabt hat er könnt sich anstecke, ...mit was bloß? ...mit Gutmütigkeit; aber die ist nicht ansteckend, leider. Man lebt nur kürzer damit, so wie dei Oma. Also mit dene Judde war des so, vor dem braune Pack.“
er zog kräftig und genüßlich an seiner Zigarre entließ den Rauch durch den zu einem O geformten Mund. Einige unregelmäßige Ringe aus weißem Rauch rollten durch die Luft und guillotinierten sich selber am scharfen Rand der gläsernen Küchenlampe. Opa Rühl fuhr mit der Hand über die Stoppeln seines ausrasierten Nacken, während er das rauchige Schauspiel von unten beobachtete.
„ Also früher waren die Juden oder Judde wie mir auf hessisch gesagt haben, beliebt und unbeliebt wie andere Leut’ auch. Nemm de Gummernjud, en feine Kerl. Wenn mer zu dem gesagt hat. ‘Ei Gummernjud’ dann war des freundlich gemeint. Genau wie mer gesacht hat ‘Ei Franzosewirt, du Schlappeseppel’, der kam halt aus Frankreich.“
„ Und wo kame die Judde her? “ wollte Peter wissen.
„ Oh mein Bub, was e Frag. Also des is schwierig. Ja, wo kame eigentlich die Judde her? Die warn schon immer da. Ein Teil kam abber nach dem erste Weltkrieg aus ‘m Osten. Des warn oft arme Leut, die habbe viel in Lumbe gemacht. Die alteingesessene Hanauer Judde, sehr feine honorige Leute, Ärzte, Juweliere, Fabrikante ham sich geschämt für die. Die wollte mit dene Lumbesammler nix zu tun ham wolle. Von viele hat mers ja net gewußt, ich mein daß se Judde warn, weil se net in die Synagoge gegange sind und am Samstag gearbeit ham, viele ham es ja selber net gewußt. Erst als der Ahnepaß eingeführt wurde und jeder einen Ariernachweis erbringen mußte sind manche ja aus alle Wolke gefalle. Die dachte die wärn hanauer Geelerübe, doch plötzlich warn se israelitische Judde.Von Isreal ham viele von dene net mehr gewußt, als wie von de Mongolei. Na ja... Die Konzentrationslager..ja heut sacht jeder, die Konzentrationslager, heut da weiß man, was passiert ist, aber damals: Am Anfang sin ja nur die Kommuniste ins KZ gekomme. Da hieß es ‘.. der Soundso is ins Lager gekomme..’ Ja des war en eingefleischte Kommunist, des war klar, wenn die Nazis an die Macht komme, komme zuerst die Rote fort. Da hat sich keiner gewunnert, da hat mer alte Rechnunge begliche. Wärn die Rote an die Macht gekomme, wärn zuerst die Nazis ins Lager gekomme. Der Faller Karl zum Beispiel, ja der is Vierunddreißig ins Lager gekomme, nach em Jahr widder raus, der war dann ganz still, ganz still, bis zum End vom Lied. Oder dein Onkel de Jule...„
Opa Rühl schwang die Spitze seines Stockes in meine Richtung und ich blickte direkt auf den Eisendorn „... der war en Kommunist, den hammse gleich fortgeschaft. Der kam zurück, war e Zeitlang still und hat Neununddreißig, als de Krieg anfing irgenwas unpassendes erzählt, kam gleich an die Front und hat sich beim erste Heimaturlaub bei seiner Freundin versteckt und als sie ihn aufgespürt haben mit seiner Dienstpistole erschosse; in einer Wohnung überm Goldene Herz. Frag dein Vadder ,Bub. Die Judde mußte dann de Stern trage, und durfte nemmer bei uns kaufe. Irgendwann mußte sich alle am Hauptbahnhof einfinden, jeder mit nur einem Koffer und mer hat se nie mehr widder gesehn. Nur de Gummernjud hat des alles überlebt, abber jetzt dürfe mir nemmer Gummernjud zu em sache, sondern nur noch Gummernschorsch. Ich war kein Held damals, hier in de Altstadt gabs überhaupt kei Helde. Drausse bei de Dunlop bei dene Arbeiter gabs e Widderstandsgrupp, die ham nachts ‘Hitler=Krieg’ uff die Güterwagonns gepinselt, des war schon Fünfunddreißig, die Züge sind bis Frankfurt gefahrn. Die Kerle hammse geschnappt. Alle weg. Abber beinah wär ich auch fort gewesen. Es war , laß mich mal nachdenke...“
Peters Vater kam aus der Backstube, er balancierte ein Brett voller Brotlaiber durch die Küche in den Laden. „Na, erzählt der alte Simpel wieder vom Gipskrieg. Glaubt dem nur nix, das sind alles Äppelwoigespinste.“ und schon war er wieder verschwunden.
„Nee, nee du Rotznas’, die Buwe lerne bei mir mehr als in de Schul. Jetzt hat der Rotzlöffel mit seine Fissematente mich ganz aus de Lameng  gebracht.“
„Wie sie bald fortgekommen wärn.“ versuchte ich ihm ins Gedächtnis zurückzuhelfen.
„ Ah, ja.Genau. Es war am Vaddertag Neununddreißig. Mir sind, zehn Mann hoch, im Sonntagsanzug, mit Vaddermörder, die Spazierstöck unterm Arm und die Kreissäge auf dem Kopf mit em Leiterwage, vorne de aale Biergaul vom Enzian Sepp eingespannt bis zum Heiße Acker in die Rückersbacher Schlucht gekomme. Dort gibt es e fei Stöffche, die Kneipe gibts immer noch.“ Ich kannte dieses Ausflugslokal, weil wir auf dem Rückweg von der Lützel eimal dort eingekehrt sind und sich mein Vater so maßlos betrunken hat, daß wir nur mit viel Glück heil nach Hause zurückgekommen sind. Es ist auch jetzt nur eine kleine Holzhütte mit drei Tischen, aber ein riesiger Biergarten mit zwanzig Brauereigarnituren.
„ Handkäs mit Musik gibts da, der läuft vom Teller wenn de en nur schräg anguckst. Dort wars. Der alte Besitzer hatte ein paar Bienenstöcke und hat Met gebraut, illegal. Des kennt ihr bestimmt von de alte Germane. Wird aus Honig gemacht, und garantiert für einen dicken Kopp, abber erst am nächste Tag.“
„ Wegen dem Met war das auch ein Tip für hundertfuffzigprozentige Parteigenossen. Die habbe geglaubt, wenn se sich mit reinarischem Met besaufe, würde se blaue Auge kriege, wie ihrn Führer, abber es gab meistens nur blaue Beule am Kopp, weil se nachher besoffe vom Pferdewage gefalle sind. Der Metheini war kein Nazi, der hat des vorher gemacht und wenn der net tot ist macht der des bestimmt heut noch.
Mir jedenfalls habbe da unsern schöne Vaddertagsausflug hingemacht, unser Stöffche gepetzt und viel gelacht. De Georg hat e Quetschkommod debeigehabt un mir ham gesunge wie die Engelscher, nur net so katholisch.
Uff einmal hat einer gesacht ‘ Ich hab gehört du kannst de Reichsmarschall gorkse.’ da hab ich zu em gesacht, ‘Ja abber nur wenn Du mir de Führer furzt.’ Des war dumm. Beim Stichwort Führer kam sofort einer von dene Schrumpfgermane, ein Typ mit em intelligente Schmiß in de Fress, rübber und wollt alles genau wisse.Wer hat was gesagt, wie und wo wurde der Führer beleidigt. Mir ham gemacht als ob nix gewese wär, aber uns sind die Muffe gegange Eins zu Zehntausend. Mir warn alle schlagartig nüchtern, bis uff en Stoppe, der war allerdings schon uffm Hinweg, kurz hinter Hanau, jenseits von gut und böse.
Damals warste halt weg vom Fenster, wenn de nur de falsche Furz gelasse hast. Und wie schnell des geht hab ich beim Jean Schröder erlebt. Manche Leut denke ich wär en alte Nazi, weil ich zu meim Spazierstock immer mein Führer sag, abber ich war nie en Nazi, en Idiot vielleicht odder en alte Simpel, wie mein feiner Herr Sohn meint. Nee, die Geschicht von dem Stock hier und warum der so heißt geht ganz anners. De Jean war deselbe Jahrgang wie ich, Fünfundachtzig, en gute Jahrgang, sind zuviele im Krieg geblieben, in Frankreich. De Jean jedenfalls war en Schlawiner, hochbegabt aber stinkendfaul. Die Arbeit hat der mit de Sturmlatern gesucht, abber en gute Kerl. Früher hat jeder Mann der ausgegange ist en Stock debei gehabt, so wie jeder Mann en Hut und en Schnorres getrage hat. Und früher gab es in jeder Äppelwoikneipe unner de Tisch e Rinne die bis zum Abfluß ging. De Äppelwoi treibt, kann ich euch sache, schon mancher hat nach em kleine Bembel, vor allem, wenn ers net gewohnt ist die Kurv nemmer gekriecht. Und weil in ner gut Äppelwoikneipe die Häuscher immer besetzt sind hat es sich eingebürgert, daß die Männer ihren Stock frei zwische die Beine gestellt ham, mit der Spitz in die Rinne und dann schlupp des Piffche rausgeholt, an de Stock angelegt und fertig war der Lack. E bissi Wasser nachgekippt, wenn einer geübt war hast du mit dem geschwätzt un nix gemerkt, bis der de Krug mit Bizzelwasser unnern Tisch gehalte hat. Also des muß mer wisse um zu verstehen warum es lebensgefährlich war sein Spazierstock Mein Führer zu taufe. Einer hat behauptet de Jean hätt im Suff in de Wilhelmsbader Waldwirtschaft zu seim Stock gesacht . ‘Komm mein stolzer Führer der Stabschef Röhm erwartet uns’ wäre vor den Garten an den nächsten Baum gegangen hätt' sein Kerl an den Stock gelegt und losgebrunzt. Sie haben ihn zwei Tag später abgeholt. Er hat sich im Gestapokeller in der Hospitalstraße uffgehängt, ham se erzählt. Sein Stock, genau dieser hier, Mein Führer' “ er hielt den alten knorrigen, Weidenprügel direkt unter meine Nase. Ob sich wegen dem Stock irgendwer erhängt hatte war mir völlig gleich, aber das dieses Stück Holz als Pisshilfe gedient hatte ließ Ekel in mir aufsteigen.
„ Dieser Stock hier weiß genau, ob die Geschichte stimmt. Ich net. Aber de Jean is tot und mich hätte es auch bald erwischt, umgebracht hätt ich mich net, aber wer weiß, da steckt mer net drin. Zwei Tag später is dein Onkel Heinz, damals war er noch net dein Onkel, und wenn er kein Aug geworfe hätt, uff die Else, dei Tante, dann wär ich auch im Loch verschwunne. Abber so hat er es nochmal hingeboge bei seine Gestapofreunde. Ich hab dann die restliche Tausend Jahr mein Mund gehalte. Nur eins konnt ich mir net verkneife, als wir damals für die Geselle und Stifte im Hof en eigene Klo gebaut ham, Vierzig war des, schon im Krieg, da hab ich unner die Kloschüßel, wo mer die Schraube in de Boden dreht, zum Abdichte, en Hanauer Anzeiger mit einem Portrait unseres Führers drunnergeklebt un immer wenn ich mei Geschäft mach, im Hofklo, stell ich mir vor wie sich des alles langsam auf den Führer zubewegt. Als de Bomber- Harris alles zerschmisse hat, am 19.März war hier alles kabutt, vom Hofklo war die Tür verbrannt, aber die Schüssel hat nichts abgekriegt und so kommts, das ich es mir heut noch leiste kann auf den Verbrecher zu scheiße.“
Nebenan ließ Peters Mutter, den Rolladen vom Eingang runter. Sie kam zu uns in die Küche. „ So mein Bub, deine Mutter wartet mit dem Essen. Ich glaub jetzt ist Heimgang.”
Peter ging noch bis zur Haustür mit. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag zum Schlittschuhlaufen. Auf dem Nachhauseweg versuchte ich A-D-E-N-A-U-E-R zu rülpsen. Ausser ein paar Grunzlauten brachte ich nichts zustande.

 

ENDE