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PFERDEKUSS

von
Gerhard Frantz

I


Ich mußte dringend pissen. Es war Nacht. Irgend ein seltsames Geräusch hatte mich geweckt. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte den Stand der Phosphorzeiger meiner Armbanduhr zu bestimmen. Halb Zwei. Mit rostigem Krächzen, setzte sich eine Sirene langsam in Bewegung, um dann in Sekundenschnelle zu einem schrillen Heulton anzuschwellen, wieder abzuschwellen.
 Es gibt Krieg heute nacht. Mutter hatte es tags zuvor unentwegt durch die Wohnung gejammert.
-Krieg, Krieg, Krieg, es gibt Krieg, die Russen kommen.-
Sie hatte den leuchtenden Zeiger des Radioapparates wie wild durch Europa gejagt, Göteborg, Helsinki, Moskau, Greenwich, Frankfurt, das magische grüne Auge war wie besessen durch babylonische Lautlandschaften gezuckt.
Wieder das Heulen.
Mitten in der Nacht gab es keine Tests. Krieg wurde immer nur mittwochs früh um Zehn geprobt.
In der Volksschule mußten wir dann den Klassenraum verlassen. Durch die unverhoffte Erlösung vom Unterricht wurden wilde Energien freigesetzt. Einmal hatte Eddy Matz mir ohne Vorwarnung zwischen die Beine getreten. Ich sah kleine glühende Kometen über die Netzhaut fliegen, fiel auf die Knie und mußte mich übergeben.
Mitte des Jahres war ich auf die Realschule für Knaben gewechselt und bekam einen runden Aufnäher für sein Turnhemd. RfK, die drei verschlungenen Buchstaben waren mit farbigem Garn dick aufgestickt worden.

LUFTSCHUTZ IST KRIEGSVORBEREITUNG
-irgendwelche Schattengestalten hatten am Busbahnhof Plakate geklebt. Mein Klassenlehrer, den alle trotz seiner riesenhaften Gestalt nur Mimi nannten, befahl den Schülern, nicht auf solche Stimmen zu hören.
-Alles Kommunisten. Das sind die gleichen Verbrecher, die an der Mauer auf unschuldige Menschen schießen.-
Wieder die Sirenen. War das nun A, B oder C - Alarm. Ich versuchte mir ein Schild aus dem Schulflur ins Gedächtnis zu holen. Darauf waren Wellen und Linien als Symbole für die verschiedenen Alarmsorten abgebildet, aber das Einzige was ich noch erinnerte, war eine lange gerade Linie - der Entwarnungston.
ABC Alarm. Ich hatte oft versucht mir vorzustellen, was hinter den harmlosen Buchstaben lauerte.
Ich wußte von einer Bombe, bei deren Explosion man auf der Stelle umfiel, alle Knochen weich wurden, wie Pudding und der Körper sich binnen kürzester Zeit auflöste, um schließlich, wie rohes Rührei, in den Gully zu laufen.
Ich weckte Roland, meinen jüngeren Bruder, mit dem ich mir eine Hälfte des vormaligen Ehebettes teilen mußte.
Roland blinzelte in seine Handflächen, murmelte Unzusammenhängendes, kroch aus dem Bett und torkelte ins Dunkelzimmer, dem Schlafzimmer der Eltern. Das hätte ich auch am liebsten getan, mich in die Ritze zwischen die Eltern verkrochen und mit dem Mund auf dem Laken den ölschweißigen Duft des Vaters aus der Matratze gesaugt. Das Dunkelzimmer hatte statt eines Fensters lediglich eine blinde Luke dicht unter der Zimmerdecke, die direkt in die Toilette reichte. Zum Lüften mußte zusätzlich das Badfenster geöffnet werden. Wenn man Pech hatte wurde in der darunterliegenden Metzgerei geräuchert und zwischen den Kissen roch es tagelang nach kaltem gelben Rauch.
Die Schwester war gestern wieder spät nach Hause gekommen. Es hatte es keinen Krach gegeben, keine schreiende Mutter und keine splitternden Besenstiele. Anita lag jetzt friedlich atmend in ihrem Bett und ahnte nichts von der drohenden Katastrophe. Anita, die vor allem und jedem Angst hatte und sich nicht mal traute vom Einer zu springen. Sie war sechzehn Jahre alt und machte seit zwei Jahren eine Lehre als Verkäuferin in einem Lederwarengeschäft. Sie haßte ihre Arbeit. Den ganzen Tag schwere Lederkoffer stapeln und stumpfe Ladenhüter auf Hochglanz polieren. Viel lieber wäre sie Friseuse geworden, aber Mutter hatte schon jemand, der ihr die Haare machte
-Geh nur zur Lederfrau. Geh lieber dahin, da kannst du später die kostbarsten Ledersachen tragen.
Anita würde sich vielleicht sogar freuen über den Krieg, dachte ich, weil sie dann nachher nicht zur Arbeit gehen müßte.
Ich wollte schlafen; hatte am Morgen noch Hausaufgaben für die erste Stunde zu erledigen. Ich rollte mich zur Seite. Selbst im Dunkeln konnte ich, ganz schwach nur, die farbigen Strichmuster auf der schwarzen Tapete erkennen, streichholzlange Striche im Fünferpäckchen. Rechnen in der Volksschule. Tagesstriche an einer Gefängniswand. Durch zusammenziehen der Augenbrauen versuchte ich die Ohren zu schärfen. Waren das die Motoren einer feindlichen Fliegerstaffel? Ich hatte derlei Angriffe oft genug im Kino gesehen und mit Revell - Flugzeugen aus dem Baukasten, nachgespielt.
Vielleicht hatten sie die Wasserstoffbombe dabei. Vor kurzem hatte ich in einem Film gesehen was alles passieren kann, wenn diese Höllendinger in die Luft gehen.


Der Koloß.


Ein kleies Flugzeug verirrt sich direkt in ein Atomtestgebiet. Die Bombe explodiert. Der Pilot kann, trotz schwerster Verbrennungen, gerettet werden. Sein Zustand bessert sich, seine Frau bleibt Tag und Nacht an seiner Seite. Doch der Genesende beginnt plötzlich zu wachsen. Erst passen ihm seine alten Kleider nicht mehr und schon bald ist selbst das Krankenzimmer zu klein. Die Armee versteckt ihn in einen Flugzeughangar in der Wüste. Der haarlose Riese wächst und wächst und die Jungen im Kinopublikum spekulieren mit ihren Händen feixend über die momentane Größe seines Pimmels. Ständig müssen sie nachbessern. Ihre kurzen Arme können das ungeheuerliche Ding kaum nachvollziehen, sodaß sich jeweils zwei Buben zusammentaten, Sitze voneineander entfernt, die, mit wild wedelnden Händen, diesem monströsen Pimmel glaubwürdige Maße verschafften.
- Das arme Mädchen. - die Bengel höhnen Mitleid mit der Frau des Riesen.

II

Die Bombe würde auf dem Freiheitsplatz explodieren, da war ich mir sicher, denn es war die einzige größere freie Fläche in der Umgebung. Wenn etwas Besonderes in der Stadt passierte, immer fand es auf dem Freiheitsplatz statt, der Zirkus Sarrasani, die Hochseilartisten, die, als wäre es ein Einkaufsbummel in schwindelnder Höhe, mit Kind und Kegel vom Rathausturm zum neugebauten Kaufhof rüberliefen, die Präsentation des Riesen-Walfisch Jonas, 20 Meter lang, Fanggewicht 58000 Kilo, das Herz wog 10 Zentner. Hans befürchtete seinerzeit der Walfisch wäre lebendig und als sie das muffige Zelt betraten, langsam vorwärtstappend, immer in der Schlange, hatte er sich längst am Hosengürtel des Vaters festgeklammert. Jonas war viel kleiner als Moby Dick, sein berühmter Artgenosse im Film, grau wie ein Pflasterstein, die Haut an vielen Stellen brüchig und zerfressen. Der massige Meeresbewohner erinnerte irgendwie an den alten Koffer seiner Tante Anni, die einmal im Jahr zu Besuch kam.
Es gab ein Ordnungssystem für die verschiedenfarbigen Striche auf der Tapete. Je länger ich in der Dunkelheit draufschaute, desto weiter entfernten sich die Muster
Der Harndrang ließ meinen Pimmel gegen die Schlafanzugshose steigen; die Berührung der empfindlichen Eicheloberfläche mit dem Leinenstoff schmerzte stumpf; wenn ich das Arschloch zusammenzog lief ein spitzer Schauer über Rücken und Hals bis in die Ohrläppchen. Ich schob die Vorhaut behutsam über die Spitze des Gliedes. Sanft, zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, ließ ich die Eichel wie einen glitschigen Pflaumenkern hin und herwandern. Die Fingerkuppen der rechten Hand glitten zart und fühlend über die Naht des Hodensackes.
Bei der Hollandfahrt mit den Christlichen Pfadfinder im Sommer hatten wir, abends in der Jurte, zu dritt gewichst. Jeder für sich, aber doch zusammen.  Bei Helmut war zum Schluß eine weißliche Flüssigkeit aus der Spitze geflossen, langsam zwar, und nicht so wild spritzend wie in unseren Pfadfinderträumen, aber doch.
Jetzt war ich auf dem Weg zum Gefühl
.-Schwanz verbrannt, die Nutte kichert, hoffentlich Allianz versichert - die Nutte kichert, hoffentlich Allianz versichert.- Schwanz verbrannt - Allianz versichert-
fegte als wilder Kanon durch meinen Kopf.



III
 

 - Aufwachen Hans, wach endlich auf.-
 Mutter zog  die Bettdecke weg.
-Es ist schon spät, wir haben alle verschlafen. Ich hatte solch ein Kopfweh diese Nacht-
-Wie spät ?-
-Kurz vor acht, ich geb Dir ´ne Mark, da kannst Du Dir beim Einschütz schnell was holen. Wasch dich, schnell ins Bad, die Anit ist in der Küche.-
Mathe in der ersten Stunde, jetzt hatte ich nicht mal Zeit zum Abschreiben.
-Ich bin krank.-
-Hast wieder deine Aufgaben nicht gemacht? Du wirst noch als Straßenkehrer enden. Ich kann Dir da auch nicht helfen.-   Sie warf mir einen naßkalten Waschlappen ins Gesicht.
-Komm! Los! Auf! -
Ich stürzte in die Klamotten. Mutter zog mich am Revers meines verhaßten dunkelgrünen Trachtenjankers zu sich und knöpfte, mit rissigen Fingern, denen immer ein unangenehmer Essensgeruch entströhmte, die silbrigen Taler.
-Hast Du heute Nacht den Krach gehört.-
Sie zupfte den Kamm aus der Bürste und mir durchs Haar.
-Aua. Au.-
ich schlug ihre Hand zur Seite. Der Kamm war an einigen Knoten im Haar hängengeblieben.
-Morgen gehst Du mir zum Seidel. Die Zigeuneranke kommt weg.-
Sie strich den Hemdkragen unter die Jacke.
-Die Gummischuh hat wieder mal gebrannt. Das ganze Lamboyviertel ist verrußt. Sie haben es gerade im Radio gebracht.-
Sie zog mich am Kragen kurz zu sich und drückte mir einen sehr feuchten Kuß auf die Backe.
-Los! Ab die Post.-

 

ENDE